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Chemie
- Das
schwarze Schulfach
"Chemie"
- ein Schimpfwort unserer Zeit. Man wünscht Salat, aber bitte "ohne
Chemie". Die Ärztin soll ein möglichst wirksames Medikament
verschreiben, aber natürlich "ohne Chemie". Der Begriff wird
häufig für "eine unnatürliche Form der Materie" verwendet. Es ist
nicht verwunderlich, dass viele unserer Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ganz
bestimmte Vorstellungen über den Wert (oder besser über den Unwert) der
Chemie haben. In diesen Zusammenhang passt eine Deutung über die Herkunft
des Wortes "Chemie" sehr gut. Der Begriff soll angeblich vom
ägyptischen Wort "ch'mi" bzw. vom arabischen "chemie"
abgeleitet sein und "schwarz" bedeuten. "Schwarz" bezog
sich vermutlich auf den dunklen, fruchtbaren Humusboden des Nildeltas, im
Gegensatz zum unfruchtbaren, rötlich-gelben Wüstensand. Die Alchemisten
verstanden unter "Chemi" das berühmte "schwarze
Präparat". Dieses sollte bei der Umwandlung der Elemente die
entscheidende Wirkung entfalten. "Schwarz" also ein ambivalenter
Begriff wie sicher auch die Chemie. Diese ist ja nicht nur die Wissenschaft
der Gifte, sondern auch der Gegengifte.
Keine
Allgemeinbildung ohne Chemie
Eine
Aufgabe des Unterrichtes ist sicher einmal diese Ambivalenz darzulegen.
Primär muss aber gezeigt werden, dass Chemie eine Naturwissenschaft ist.
Unzählige Berufe wie z.B. die Apothekerinnen, Ärzte, Architekten, Malerinnen
Ingenieure haben tagtäglich mit Chemie zu tun. Viele Alltagsprodukte wie z.
B. Nahrungs- und Genussmittel, Textilien, Metalle, Porzellan- und Tonwaren,
Kosmetika, Waschmittel, Medikamente sind dank chemischen Reaktionen
entstanden. Bei der Ausarbeitung von Lösungsansätzen für ökologische
Probleme spielt diese Naturwissenschaft sicher eine entscheidende Rolle.
Einige der Schnittstellen zwischen Unterricht und Technik sind in
einer Tabelle zusammengefasst. Der aktuelle Unterricht versucht,
Grundlagenwissen zum Verständnis der eingangs genannten Fragen und
Tatsachen zu vermitteln. Erkenntnisse vor allem für die
"späteren" Nichtchemikerinnen und Nichtchemiker. Ist dieses Wissen
vorhanden, kann sich eine Maturandin viel eher ein eigenes Urteil bilden.
Ein Verharmlosen eines Umweltproblems aus Profitgier wie eine Übertreibung
aus Sensationslust kann dann eher erkannt werden. Es sind im Allgemeinen die
Chemiker selber, die aufgrund ihres Wissens vorerst unerkannte Gefahren
analysieren und mit ihren Mitteln versuchen zu beseitigen oder mindestens zu
mindern.
Ein
Schulbeispiel
dazu: Bereits in den siebziger Jahren hatten Chemiker aufgrund von
Modellrechnungen vor einem Ozonloch aufgrund der FCKW gewarnt. Erst 1985,
nachdem die fortschreitende Ausdünnung messbar wurde, wurden auf der
politischen Ebene Massnahmen ergriffen. Heute stehen dank des chemischen
Wissens Ersatzstoffe für FCKW zur Verfügung. Es wird häufig verkannt, dass
die Chemikerinnen allesamt ebenfalls sehr am Umweltschutz interessiert sind,
da wir alle im selben Boot sitzen.
Evaluationsumfragen unter
Schülerinnen und spontane Fragen der Schüler im Unterricht zeigen immer
wieder, dass der Aktualitätsbezug (wie in einigen Fällen in der Tabelle 1
dargelegt) sehr geschätzt wird. Dank des praxisbezogenen Unterrichts in
Biologie, Chemie und Physik können Berichte über Umweltfragen in den
Massenmedien viel besser verstanden und eingeordnet werden, lauten
Rückmeldungen von Ehemaligen.
Denken
in Modellen
Zeigt die Lehrkraft ein
spektakuläres chemisches Experiment, so taucht sofort die Frage nach dem
"Weshalb" auf. Es ist offenbar ein Merkmal der Jugend, sich über
Naturphänomene zu wundern. Unverzüglich beginnt sie aber nach Erklärungen
und Gesetzmässigkeiten zu suchen. Die Gymnasiasten sind in den wenigsten
Fällen "Briefmarkensammler-Typen", die einfach ein Phänomen ans
andere reihen, wie eine Sammlerin eine Rarität neben die andere legt. Sie
versuchen eine Ordnung in das "chemische Weltbild" zu bringen.
Diesem Suchen nach
Erklärungen kann der Chemieunterricht sehr entgegen kommen durch das Denken
in Modellen. Dies heisst, durch anschauliche Erklärungs- und
Deutungsversuche, fiktive Bilder vom atomaren Aufbau der Materie, eben sog.
Modellvorstellungen, wird versucht, das chemische Verhalten der Stoffe zu
darlegen. Oder in gewissen Fällen können dank Modelldenken neue
Materialien (z. B. Kunststoffe, Batterien, Medikamente) mit ganz bestimmten,
gewünschten Eigenschaften gewonnen werden.
Häufig werden im
Chemieunterricht Atommodelle
eingesetzt. Diese müssen eingesetzt werden, da es nicht möglich ist, die
innere Struktur eines Atoms direkt sichtbar zu machen. Die Aussagen über den
atomaren Bereich der Materie haben daher durchwegs Modellcharakter. Solche
atomaren Denkmodelle stammen nicht aus der Alltagserfahrung der Gymnasiastin
und sind für sie völlig fremd. Dieses Denken in Modellen kann im Gymnasium
vor allem in der Chemie sehr gut praktiziert werden (z.B. Deutung der
chemischen Vorgänge bei einer Kerzenflamme). An der Hochschule hingegen ist diese Denkweise weit
verbreitet (z. B. in der Ökonomie das Modell der vollkommenen Konkurrenz,
Modellrechnungen zur Entwicklung des Bruttosozialproduktes).
Wird
schon im Gymnasium mit Modellvorstellungen gearbeitet, dann wird während des
Studiums an der Universität der Modellcharakter von Aussagen und Berechnungen
leichter erkannt und verstanden. Rückmeldungen von Ehemaligen bestätigen
dies immer wieder. Hier erfüllt der Chemieunterricht eine allgemein
bildende Aufgabe, da diese Denkweise später bei ganz verschiedenen Studien
nützlich sein wird.
Chemie
und Raumvorstellung
Die räumliche Anordnung der
Atome im Molekül ist in vielen Fällen für die chemische
Reaktivität entscheidend. Bei Enzymen beispielsweise kann die Umwandlung der
Struktur in sein Spiegelbild bewirken, dass sich die biologischen
Eigenschaften drastisch ändern. Graphit und Diamant bestehen beide aus
Kohlenstoffatomen, diese sind aber in den beiden Fällen völlig anders
angeordnet. Solche Strukturfragen, das Aufzeichnen der Molekülstrukturen, das
Erkennen, ob das Spiegelbild einer Anordnung vom Bild verschieden ist oder
nicht, dies sind Aufgaben und Lernprozesse im Unterricht, welche das
Verständnis für Chemie fördern, gleichzeitig aber auch das räumliche
Denkvermögen schulen.
Lehr-
und Lernformen im Chemieunterricht
Heute wird von verschiedenen Seiten eine Individualisierung des Unterrichtes gefordert. Die moderne Didaktik verlangt Gruppen- und Werkstattunterricht, Leitprogramme, Fallstudien usw. Trotzdem wende ich häufig und ohne schlechtes Gewissen den klassischen Frontalunterricht (Vortrag, fragend-entwickelnder Unterricht, Unterrichtsgespräch) an. Diesen unterbreche ich aber häufig und lasse in Gruppen Lern- und Anwendungsaufgaben lösen. Aus Diskussionen mit Fachkolleginnen und -kollegen weiss ich, dass ich nicht der Einzige bin, der oft den Klassenunterricht einsetzt.
In unserem Fach sind
"solide chemische Kenntnisse" notwendig. So wird es jedenfalls im
Rahmenlehrplan unter Grundhaltungen verlangt. Zudem ist es üblich, dass
unsere Schülerinnen und Schüler die Chemie der letzten Ergebnisse, der
besten Theorien und der neuesten Atommodelle erlernen. Die Gymnasiasten wären
sowohl theoretisch als auch experimentell (Sicherheit!) restlos überfordert,
die Forschung der letzten hundert Jahre selber nachzuvollziehen. Um die
theoretischen Hintergründe und die Forschungsresultate der Schnittstellen
nur einigermassen erfassen zu können, ist die
unmittelbare Hilfe einer Fachperson notwendig. Weiter sind die Randbedingungen
(Klassengrösse, räumliche Voraussetzungen und Zahl der Lektionen pro Woche)
für eine Individualisierung in vielen Fällen nicht gerade ideal.
Beispielsweise unterrichte ich eine Gymnasialklasse mit 22 Schülerinnen und
Schülern, die pro Woche eine Lektion Klassenunterricht (neben dem
Chemiepraktikum) hat. Daher höchstwahrscheinlich die Dominanz des
Frontalunterrichtes im engeren oder weiteren Sinne.
Neben
dem Klassenunterricht sehen die Stundentafeln bzw. Lehrpläne unserer
Gymnasien praktischen Unterricht in Halbklassen im Labor vor. Hier hingegen
wird seit langem der individualisierte Gruppenunterricht eingesetzt und
gepflegt. Zwei oder drei Maturandinnen oder Maturanden führen selbstständig
nach Vorschrift eine Analyse oder eine Synthese durch. Oder sie versuchen
aufgrund ihres Wissens und mit Hilfe von Experimenten Gesetzmässigkeiten
herzuleiten. Vorteilhafterweise findet das Praktikum nicht am
Anfang der Ausbildung in Chemie statt. Gegen den Schluss der gymnasialen
Ausbildung sind schon mehr kognitive Fähigkeiten ausgebildet. Die
Schülerinnen sind dann erst in der Lage, selbstständig den Weg der
Erkenntnisgewinnung zu beschreiten und vernetzt zu denken.
Hie
und da wird im Chemiepraktikum auch ein Produkt hergestellt, welches die
Schülerschaft dann nach Hause nehmen kann, z.B. Abwaschmittel, Seife,
Handcreme, Lippenpomade oder Sonnenschutzmittel. Bei diesen Lektionen muss
sich eine Chemielehrkraft wohl kaum über mangelnde Motivation beklagen.
Evaluationsumfragen zeigen, dass diese Art von Chemieunterricht, die direkte
Verknüpfung der Theorie mit der Praxis, die Selbsttätigkeit (Zitat:
"Möglichst viele Alltagsprodukte herstellen") und den Stolz über
das eigene Werk (Zitat: "Das Chemiepraktikum hat unser Haushaltbudget
entlastet") sehr geschätzt wird.
Umwelt-
und Technikkompetenz
Die Jugend von heute, also
auch die Absolventinnen und Absolventen der Gymnasien wird morgen der
Erwachsenenwelt angehören. Dann wird sie in der Gesellschaft und im Staat die
entscheidenden Stellen besetzen und damit auch ökologisch relevante
Entscheidungen treffen. Chemisches Wissen und Erkenntnisse sind dazu
bedeutsam. Geben wir diese der Jugend mit auf den Weg. Bedingt durch das
Maturitätsreglement von 1995 ist die Zahl der Chemielektionen an den meisten
Gymnasien gekürzt worden. Dies hat zur Folge, dass der Chemieunterricht
vielfach nicht mehr exemplarisch, sondern nur noch fragmentarisch ist. Er kann
seine allgemein bildende Funktion nur noch unvollständig erfüllen.
Für viele Akademikerinnen und
Akademiker ist das Gymnasium die letzte Schule in Physik, Chemie und Biologie.
Es geht nicht an, dass unsere Gesellschaft je länger je mehr durch diese drei
Naturwissenschaften beeinflusst und geprägt wird, während sie im Gymnasium
nur ein Schattendasein fristen. Eine Änderung ist hier dringend notwendig.
Die Fächer Physik, Chemie und Biologie müssen mehr Lektionen erhalten.
Dadurch, dass die Leistungen dieser Fächer im Maturzeugnis nur mit einer
einzigen Note erscheinen, werden sie sehr stark abgewertet.
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